SPD

Ortsverein Eickel

20.07. Familientag
Familientag des Unterbezirks Herne im Schlosspark Strünkede

Liebe Genossinnen und Genossen,
liebe Bürgerinnen und Bürger von Eickel,
der SPD-Ortsverein Eickel steht für eine argumentative Politik. Informieren sie sich zur aktuellen Themen, diskutieren sie mit am

Informationsstand des SPD-Ortsvereins Eickel

 

Familientag
des Unterbezirks Herne
im Schlosspark Strünkede

am Sonntag, 20. Juli 2003,
von 14:00 bis 18:00 Uhr.

mit Peer Steinbrück

Ministerpräsident Nordrhein-Westfalen

Peer Steinbrück, Ministerpräsident NRW

In der Zeit von 14 bis 18 Uhr erleben die Besucher im Schlosspark Strünkede ein Unterhaltungsprogramm mit Musik, Gesang, Tanz und Spiel. Jugendkunstschule und Falken haben sich erneut jede Menge Spaß für die Kinder einfallen lassen. Die SPD und ihre Ortsvereine warten zudem mit vielfältigen Informationen auf. Zahlreiche weitere Organisationen wie Weltmarkt, Arbeiter-Samariter-Bund, Biologische Station, Arbeitslosenzentren, Schuldnerberatung, Herner Tageseltern, Tierschutzverein, Gewerkschaft Verdi und Arbeiterwohlfahrt gesellen sich dazu.

Den unterhaltsamen Part bestreiten danach der Trixi-Mädchenchor und das Trixi-Ballett sowie der Musiker Gerhard Sender.

Wie schon in allen vergangenen Jahren werden wir unseren Informationsstand aufbauen und unser Jakkolo-Spiel aufstellen.

Wer sich am Stand beteiligen oder beim Aufbau ab 8:00 Uhr oder beim Abbau ab 18:00 oder beim Generalreinemachen am Montag danach ab 10:00 Uhr helfen möchte, melde sich bei der Vorsitzenden.

Bis dahin verbleibe ich mit freundlichen Grüßen

Elisabeth Majchrzak-Frensel
  (Ortsvereinsvorsitzende)

 
Jutta Haug, MdEP und Horst Schiereck

Um 15:00 Uhr begann der "politische Teil" des Festes mit einer Talkshow, in deren Mittelpunkt eine Diskussion der Europaparlamentarierin Jutta Haug mit Horst Schiereck, Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion, stand. Vor der Diskussion genossen beide aber erst einmal die Vorführungen der Trixis im Schlosshof, deren Kostüme die einzig richtige Antwort auf das heiße Sommerwetter waren. ;o)

Steinbrücks Rede

Kurz nach 15 Uhr kam Peer Steinbrück, der sich dem Publikum zusammen mit dem Unterbezirksvorstand stellte und danach im Schlosshof mit Hernes SPD-Chef Gerd Bollmann (MdB) diskutierte.

SPD-OV Eickel mit Jackolo-Spiel

"Familientag" auch bei uns am Jakkolo-Stand

Nach der großen Politik wurde noch gesungen
WAZ vom 21. Juli 2003, JoS

Zwischen Streichungen im Landesjugendplan und dem Volkslied "Ein Heller und ein Batzen" lagen gestern für Peer Steinbrück nur gute 50 Meter. Luftlinie!

Denn der NRW-Ministerpräsident, gestern Nachmittag in dieser Funktion erstmals in Herne, wurde beim SPD-Familienfest im Schlosspark Strünkede von den Falken begrüßt ("Bei den Kurzen nicht kürzen") und gute 60 Minuten später vom Wanner Trixi-Chor ("Wir singen mit dem Landesvater") wieder verabschiedet.

Dazwischen lagen 50 Schritte, die den gebürtigen Hamburger unter anderem an mehreren Ständen (Verdi, BüZ, AWo) vorbei und dann auf die Tribüne führte. Dort bedankte er sich gemeinsam mit Hernes SPD-Chef Gerd Bollmann bei allen Ehrenamtlichen, die das Fest vorbereitet hatten ("Ihr verkörpert die Seele der Partei"), um dann kurz in die große Politik einzutauchen.

Steinbrück gab den Genossen und allen Besuchern, grob geschätzt waren es am gesamten Tag etwa 10 000, mit auf den Weg, dass "wir schwierigen Zeiten entgegen gehen", dass "wir echt klamm sind", und dass er in den nächsten Wochen Demonstrationen gegen den Stellenabbau im Öffentlichen Dienst erwartet. Aber, so Steinbrücks Aufruf an seine Partei: "Stellt Euch den Diskussionen und redet selbstbewusst mit den Leuten."

Danach ging's in den Schlosshof, wo der 56-Jährige den Mantel des Politikers ablegte und in die Rolle des Landesvaters schlüpfte. Gemeinsam mit den Trixis schmetterte er zwei Lieder, obwohl er vorher gedroht hatte: "Wenn ich hier singen muss, ist der Hof in zwei Minuten leer."

Schröders letzter Mann
DIE ZEIT vom 11.05.2005, Nr. 20, von Stefan Willeke

Peer Steinbrück soll am 22. Mai die Macht in Nordrhein-Westfalen verteidigen - eine aussichtlose Schlacht? Unterwegs mit einem Nahkämpfer, der schon als Kind nur eines wollte: Unbedingt gewinnen

Von Stefan Willeke

Wie das Leben wohl weitergeht, wenn er am 22. Mai verlieren sollte? Wenn er vielleicht nicht mehr nach Düsseldorf fahren muss, weil es dort für ihn nichts mehr zu tun gibt? Gertrud Steinbrück sitzt bei einem Glas Tee in ihrem Wohnzimmer in Bad Godesberg und schaut hinaus auf einen blühenden Kirschbaum, wahrscheinlich steht ihr Mann gerade wieder in einer verqualmten Halle und rühmt die SPD. »O nein«, sagt sie, »der Peer den ganzen Tag zu Hause, nein, besser nicht.« Sie lacht. Dann wird er wohl wieder pausenlos in Katalogen blättern, dicke Bücher bestellen, der Briefkasten wird überquellen. Könnte auch sein, dass er oben in seinem Zimmer wieder Modellschiffe basteln wird wie ein fanatisches Kind. In jedem Fall müsste dieses Haus groß genug sein für all die überschießende Energie dieses Mannes. Kein Haus wäre dann groß genug.

Wird Peer Steinbrück die Wahl in Nordrhein-Westfalen gewinnen? Oder wird er nach 39 Jahren SPD-Herrschaft die Macht am Rhein abgeben müssen? Danach sieht es im Moment aus, aber Steinbrück ist ein schwer auszurechnender Gegner. »Die Wahl«, glauben seine Leute, »wird in den letzten Tagen entschieden.«

Gut möglich, dass Kanzler Schröder ihn nach einer Niederlage in Düsseldorf zum Nachfolger von Finanzminister Hans Eichel machen will. Gut möglich, dass Steinbrück das gar nicht will, weil er dann bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr wieder ums politische Überleben kämpfen müsste.

Peer Steinbrück, Ministerpräsident. Vor 58 Jahren in Hamburg geboren, ein Spross aus dem hanseatischen Bürgertum, sein Vater erfolgreicher Architekt. Studium der Volkswirtschaft in Kiel, glänzendes Diplom, Schiffsnarr, Kenner der Marine. Verheiratet, zwei Töchter, ein Sohn. Der erste Norddeutsche an der Spitze in Nordrhein-Westfalen. »Herr Schteinbrück«, sagen die anderen in Talkshows, er aber sagt »Sss-teinbrück«, wenn er sich vorstellt. Auf die Idee, dass er seit 30 Jahren in Bonn lebt, käme man nicht.

Peer Steinbrück, Spitzenkandidat. Müntefering und Schröder umringen ihn unentwegt, sie erdrücken ihn fast, jetzt, da es nicht mehr nur um Steinbrück geht, nicht allein um die bröckelnde Bastion NRW, sondern um ein deutsches Experiment mit dem Namen Rot-Grün. Es hängt so viel an einem Mann, der von sich sagt, er wolle nicht so viel versprechen.

Der Morgen, an dem Peer Steinbrück zu einem »Sicherheitsrisiko für die Bundesrepublik Deutschland« wurde, begann früh um halb sieben, jemand läutete Sturm an der Wohnungstür. Der Student Steinbrück lebte damals, zu Beginn der siebziger Jahre, in einer Wohngemeinschaft in Kiel. Acht Freunde waren zusammengezogen, in Steinbrücks Zimmer standen Regale voller Bücher, an einer Wand hing ein Poster mit einem Schiff. Steinbrück schlief noch, als seine Mitbewohnerin Veronique die Tür öffnete und von dem Lauf einer Maschinenpistole zur Seite gedrückt wurde. Zwanzig, dreißig Polizisten stürmten herein, schrien »Aufstehen!«, stellten alles auf den Kopf. Verdutzt fragte Steinbrück: »Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbefehl?«

Es gab keine Che-Guevara-Plakate in dieser WG, es gab das Rotationsprinzip beim Kochen, und Peer Steinbrück mogelte sich mit seinen einfallslosen Toasts Hawaii daran vorbei. Alles ganz harmlos. »Peer war zwar viel politischer als wir, aber er war auch nicht so richtig links«, sagt ein ehemaliger Mitbewohner heute. Die Fahnder nahmen ein Morsealphabet mit, weil sie dachten, damit würden Nachrichten nach Moskau abgesetzt.

Als die Ermittler das Haus verlassen hatten, merkten die Studenten, dass ein Staatsanwalt seine Aktentasche vergessen hatte. »Ich bin für Reingucken«, meinte Steinbrück. Nachbarn hätten die Studenten angezeigt, stand in den Akten. In der Wohnung sollen vorher Leute gelebt haben, die angeblich Kontakt zur Baader-Meinhof-Gruppe hatten. Ein paar Tage vor der Durchsuchung war in der Nähe eine Sparkasse überfallen worden, und als Steinbrück mit seinen Freunden eine Party steigen ließ, glaubten Nachbarn an eine »Beutefeier«.

Damals war Steinbrück ein glühender Bewunderer von Willy Brandt. Mit ihm beschäftigte sich Steinbrück viel, er riss aus Zeitungen Artikel aus und legte in seinem WG-Zimmer ein kleines Archiv an. In die SPD war er eingetreten, weil es Brandts Partei war. Dann aber kommt ihm dieser Kanzler Brandt in die Quere.

Auf der Party eines gemeinsamen Freundes hat Steinbrück die promovierte Genetikerin Gertrud aus Bonn kennen gelernt, die beiden haben geheiratet, im Bundesbauministerium hat Steinbrück einen befristeten Vertrag bekommen, der 1976 ausläuft. Er hofft auf eine feste Anstellung als Beamter, aber der Verfassungsschutz schaltet sich ein, keine Chance. »Sicherheitsrisiko«. Steinbrück wird arbeitslos, seine Frau ist hochschwanger. Lustlos müht er sich mit einer Doktorarbeit ab, die nicht vorankommt. »Er schien regelrecht zu zerfallen«, erinnert sich seine Frau.

Die Beutefeier hallt nach, und der Mann, dem Steinbrück das Unglück verdankt, heißt Willy Brandt. Auf ihn geht der Radikalenerlass zurück. Von nun an sieht Steinbrück diesen Brandt kritischer. Enttäuscht sucht er in der Partei nach einer neuen politischen Heimat. Wohin führt der Weg?

Fast 30 Jahre später warten breitschultrige Bodyguards in einem Café in der Fußgängerzone von Münster. Ältere Damen halten bei Schwarzwälder Kirsch die Hüte auf ihren Frisuren fest. »Der MP!«, sagt ein Leibwächter, der sich ein Funkgerät ans Ohr geklebt hat und einen reservierten Tisch bewacht, »gleich ist der MP da.«

Es ist ein verregneter Tag im November 2004, noch hat der Wahlkampf nicht begonnen. Ministerpräsident Steinbrück hat ausrichten lassen, dass er mitmachen werde, wenn die ZEIT ihn in den Monaten vor der Landtagswahl beobachten wolle. Ein erstes Treffen mit dem Mann, von dessen Wahlergebnis abhängt, ob die SPD noch stärker ins Rutschen gerät. Sollte er scheitern, wird in den Geschichtsbüchern vielleicht einmal stehen, dass das Ende von Rot-Grün mit Steinbrück begann.

Peer Steinbrück eilt zum Tisch, er wirkt angestrengt, gleich muss er schnell nach Telgte, es gibt ja immer irgendwo was. »Treffen in Telgte«, sagt Steinbrück und lacht über seinen Scherz. Genau genommen, presst er nur in hektischen Stößen Luft heraus, die er mit Lachgeräuschen unterlegt. Steinbrück bestellt ein Kännchen Kaffee und Apfelkuchen mit Vanillesoße. Dann sagt er, dass er bei Heimspielen von Borussia Mönchengladbach oft auf der Tribüne sitze, weil Gladbach dann nicht verliere. Die hätten ihn jetzt gebeten, auch bei Auswärtsspielen zu erscheinen.

Fragt man ihn nach Menschen, die er bewundere, antwortet er, Helmut Schmidt sei so ein Mensch. Diese Klarheit, diese Geradlinigkeit. Ein paar Jahre lang arbeitete er als junger Mann ziemlich unbeachtet in Schmidts Kanzleramt. Von Brandt zu Schmidt, das ist der erste Abschnitt auf Steinbrücks politischem Weg.

Nachdem Klaus Matthiesen, Mitte der Siebziger noch SPD-Oppositionsführer in Kiel, den jungen Genossen Steinbrück aus den Fängen des Verfassungsschutzes befreit und Steinbrück im Bonner Forschungsministerium angefangen hat, findet er zu seinen Themen. Energiekreisläufe, Straßen, Tunnel, Flughäfen – die Großstadt der Moderne, eine sozialdemokratische Sicht auf eine planbare Zukunft. Steinbrücks politische Vernunft wächst aus der Vernunft des Möglichen.

Ein Lieblingsbuch? Ein Lieblingsfilm? Minutenlang zählt Steinbrück nun Namen und Titel auf, bei Karl Popper bleibt er besonders lange, und am Ende sagt er, man möge sich besser eine vollständige Liste von seiner Presseabteilung besorgen. Vor einiger Zeit, erzählt Steinbrück, habe er mit Friedrich Merz von der CDU eine Podiumsdiskussion in einer Industrie- und Handelskammer bestritten. »In der Analyse der großen Probleme«, sagt er, »gab es zwischen uns keine Unterschiede.« Ein Satz, der 142 Jahre Parteigeschichte vergessen machen könnte. Netzer, fällt Steinbrück noch ein, Günter Netzer habe er immer bewundert, auch wegen dessen »intellektueller Unabhängigkeit«. Der sei bestimmt ein Wechselwähler. Wer die Netzers kriege, der könne die Wahl gewinnen.

Als der Fußballer Netzer noch Pässe verwandelte, spielte Steinbrück Stratego. Bei diesem Brettspiel lässt man kleine Armeen gegeneinander antreten. »Peer hat mich nie gewinnen lassen«, sagt seine ehemalige WG-Mitbewohnerin Veronique Lundgren, »ich war ja fast traumatisiert. So lange hat er immer vor seinen Zügen überlegt.« Alles, was er tat, unterlag einem geordneten Muster. Wenn Steinbrück sein Zimmer reinigte, fuhr er mit dem Staubsauger in parallelen Längslinien den Tetxtih ab, danach in Querlinien. »Methodisches Saugen«, nannte das einer aus der WG.

So ähnlich wird Steinbrück später auch Politik machen, auf der Schreibtischunterlage im Büro des Ministerpräsidenten wird nichts weiter liegen als ein Organigramm seiner Staatskanzlei. Wissenschaftler werden ihn einen »Sozialdemokraten neuen Typs« nennen, seine Frau Gertrud wird sagen: »Für verqualmte Hinterzimmer hat er nichts übrig.« Steinbrück wird die Ruinen unvollendeter Leuchttürme entsorgen, die sein Freund und Amtsvorgänger Wolfgang Clement in Nordrhein-Westfalen aufgestellt hat. Bei Clement ist immer alles voller Leuchttürme, die hin und wieder hektisch blinken, danach aber verlöschen und verrotten. Steinbrück wird wieder saugen müssen, aber nie schlecht über Clement sprechen.

Clement und Steinbrück, diese Verbindung übersteht jede Belastungsprobe. Mit Clement wohnte Steinbrück eine Weile gemeinsam in einer Wohnung, als Steinbrück Ende der achtziger Jahre Büroleiter unter Ministerpräsident Johannes Rau war und Clement Chef der Staatskanzlei. Clement brauchte nur wenig Schlaf und konnte Steinbrück sehr auf die Nerven gehen, wenn er früh um sechs schon Krach machte. Wo Clement war, da kam später auch Steinbrück hin. Es schien, als sei Clement unverhofft ein kleiner Bruder zugelaufen.

Zwar ging Steinbrück 1990 als Staatssekretär nach Kiel, wurde dort auch Minister, aber er kehrte 1998 zurück, wurde Clements Nachfolger als Wirtschaftsminister, danach Finanzminister, da hieß der Ministerpräsident schon Wolfgang Clement. Noch heute sind die beiden so gute Freunde, auch politisch, dass man ihre Ansichten kaum unterscheiden kann. »Wenn sie mal zusammenkommen, kriegt man sie kaum mehr auseinander«, sagt Steinbrücks Frau.

Früher hießen sie hier Heinz, Herbert oder Hermann – Peer hieß keiner

Ende November 2004, als Peer Steinbrück sich vornimmt, in der Menge zu baden, wippt er im Lichtkegel der Deckenstrahler in der Bochumer Jahrhunderthalle. Er neigt seinen Oberkörper, als wolle er Respekt bezeugen im Angesicht dieser Übermacht konservierter Vergangenheit. »Unser Bruttosozialprodukt ist größer als das von Australien!«, ruft Steinbrück. Seine Worte laufen an rostroten Stahlträgern und Gasrohren entlang, tropfen herunter auf die Zuhörer von der mächtigen Ruhrgebiets-SPD, abwartend sitzen sie da, skeptisch, die Männer mit den faltigen Gesichtern. Sie lassen sich ihren Stolz nicht nehmen auf ihr Leben, auf Kohle, Strom und Stahl, Wandel hin, Wandel her. Ein paar Hungrige gehen, im Foyer kriegt man Bratwürste mit Kartoffelsalat. »Wandel nicht um jeden Preis!«, ruft Steinbrück, die Menge klatscht, die erste Runde hat er gewonnen gegen den Kartoffelsalat.

Eine bodenständige, eher konservative Kumpelgesellschaft ist hier versammelt, immer ein bisschen nostalgisch, immer zu lebenslangen Verbrüderungen fähig und bereit. Die Alten haben Schwielen an den Händen, und nicht jeder hält sich mit spitzfindigen Unterscheidungen zwischen Dativ und Akkusativ auf. Der Typ Ruhrgebietspolitiker, der später Ministerpräsident werden durfte, sah immer ganz anders aus als dieser Redner mit der hohen Stirn, das glatte Gegenteil. Väterlich wie Johannes Rau waren Ministerpräsidenten früher, wortgewaltig wie Heinz Kühn. Ihre Vertrauten hörten auf Vornamen wie Hermann oder Herbert, jedenfalls hieß hier niemand Peer. In Hallen, die nach öliger Arbeit rochen, wurden Männer in Richtung Kabinett geschoben, die sich in Stahlwerken auskannten, zumindest in Stadtwerken.

Die Milieus der Industriearbeiter zerfallen, Bergwerke schließen, und in umgebauten Werkshallen laufen jetzt Techno-Events, dennoch sind die sterbenden Milieus langlebiger als gedacht. Sie halten sich sogar in den Köpfen der Jüngeren, die mit Kohlenhobeln nichts mehr anzufangen wissen, fanden Sozialwissenschaftler heraus. Die alten Milieus haben den Kindern ein Gefühl für soziale Gerechtigkeit vermacht. Nordrhein-Westfalen ist ein durch und durch sozialdemokratisches Land, ganz gleich, welche Partei dort regiert. Wem der Ruf anhaftet, das Soziale in der Demokratie zu gefährden, der hat zwischen Rhein und Ruhr einen schweren Stand.

Der Redner da vorn war den Männern mit den faltigen Gesichtern fast unbekannt, als der scheidende Ministerpräsident Clement ihn im Herbst 2002 zu seinem Nachfolger erklärte. »Steinbrück kam wie ein Alien über uns«, sagt ein Sozialdemokrat von der Ruhr. Die Partei wollte lieber das Duisburger Urgestein Harald Schartau, einen erdverwachsenen Gewerkschafter, aber Schartau hatte kein Landtagsmandat, deshalb durfte Steinbrück ran und versöhnte Schartau mit der Beförderung zum kleinen Superminister für Wirtschaft und Arbeit.

»Peer wer?«, fragten anfangs auch die Zeitungen, Steinbrück stammt aus den aufgeräumten Vorzimmern der Macht. Clement war der Macher in Nordrhein-Westfalen, Steinbrück sein Organisator, so lange, bis der Macher das für ihn geschaffene Superministerium in Berlin übernahm. Clement war in Nordrhein-Westfalen der erste Ministerpräsident, der den feuerroten Himmel über den Duisburger Hütten nicht mehr verklärte, sondern benutzte als Kulisse der Macht. Ab und zu kokettiert Clement noch heute mit seiner Herkunft aus Bochum, aber was ihn interessierte, fand nicht mehr in Stahlwerken statt – elektronische Medien, Schnellzüge, Lasermedizin. Schon mit Clement endete eine Ära. Als er ging, waren viele Sozialdemokraten an der Ruhr erleichtert und besorgt zugleich. Einer von ihnen sagte: »Es wird jetzt nur noch Clements geben.« Die Bindungen, die Sozialdemokraten einst zu erzeugen wussten, zeigten Risse.

Clement überließ Steinbrück ein zerwühltes Land, rotes Hoheitsgebiet seit 1966, nun aber unentschiedener und treuloser denn je. Der angestammte Politikertyp, der Stimmen von Wählern auf sich zog, weil er zu ihrem Nutzen Macht auszuüben verstand, ist vom Aussterben bedroht und, entscheidender noch, mittlerweile wertlos geworden. »Ich erledige das für dich«, dieses Wahlversprechen genügte früher. Drohten die Bochumer Opel-Werke mit irgendeiner hässlichen Konsequenz, fuhr ein Minister dorthin und erledigte das. Aber welcher Minister kann heute verhindern, dass General Motors in diesen Opel-Werken Jobs streicht? Er müsste zur Konzernzentrale nach Detroit fliegen, aber auch dort gäbe es für ihn nichts mehr zu erledigen.

Peer Steinbrück ist das Abbild einer neuen, illusionslosen Epoche, in der Sozialdemokraten mit Politmanagern leicht zu verwechseln sind. Sie haben die gewandelte Rolle angenommen, weil sie sich nur noch diese Rolle vorstellen können. Modern ist,was in ein Kästchen passt.

Steinbrück bastelt an kleinen Lösungen herum. Ein bisschen mehr Ganztagsschule, viel mehr Bildung, das steht oben auf seinem Wunschzettel. Logistikzentrum im Duisburger Hafen, Technologiepark Dortmund, Strafen für Bummelstudenten, innovative Firmen rund um Aachen, weniger Bürokratie als früher – das sind Steinbrücks Erfolge, nein, es sind die Erfolge von 20 Jahren Strukturpolitik. Nutzlose »Denkfabriken« seines Vorgängers Clement hat Steinbrück geschlossen, die NRW Medien GmbH, die Projekt Ruhr GmbH, und die Machenschaften der landeseigenen Gesellschaft für Wirtschaftsförderung beschäftigten einen Untersuchungsausschuss. Es geht alles sehr mühsam voran, während die Weltwirtschaft rotiert.

»Wir wären der sechstgrößte Staat der EU!«, ruft Steinbrück ins Bochumer Publikum. Dass die Verschuldung seines Bundeslandes bedrohlich hoch ist, die Arbeitslosenquote auch, sagt Steinbrück nicht. Als nach einem eingestreuten Scherz Gelächter aufbrandet, wartet Steinbrück kurz und kehrt sofort zum Thema zurück.

Ein alter Mann mit schlohweißen Haaren hört aufmerksam hin. Oft sitzt er in denkmalgeschützten Hallen, er kannte diese Hallen schon, als in ihnen noch Öfen qualmten und draußen der Regen schwarz vom Himmel fiel. »Setz dich, Hermann«, haben sie gesagt, als er kam. Früher war Hermann Heinemann lange Sozialminister in Düsseldorf, Chef des stimmgewaltigen SPD-Bezirkes Westliches Westfalen war er noch viel länger, das war er schon, als Steinbrück noch Zeitungsartikel über SPD-Größen sammelte. Eigentlich war Heinemann im Ruhrgebiet pausenlos an der Macht, Gegner nannten ihn respektvoll »den Paten«.

Inzwischen fällt ihm das Gehen schwer, die Macht ist sowieso delegiert, und dennoch muss Heinemann nur eine Tür zu einem Parteitreffen irgendwo zwischen Bielefeld und Xanten aufstoßen, dann sagen die anderen: »Tach, Hermann, schön, dich zu sehen.« Sein Wort gilt noch was, »Mir liegt am Herzen«, so beginnen viele seiner Sätze. Als er früher einmal mit Willy Brandt aneinander geriet und Brandt ihn daraufhin zu ignorieren versuchte, konterte Heinemann: »Komm, Willy, wir reden.« Sie redeten.

Zum ersten Mal hat er Steinbrück vor großer Runde über den Zusammenhalt einer friedfertigen Gesellschaft sprechen hören. »Die Versager werden nicht zur Rechenschaft gezogen«, schimpfte Steinbrück über verantwortungslose Konzernbosse, so was gefällt Heinemann sehr.

Vor anderthalb Jahren, kurz vor seinem 75. Geburtstag, hatte Heinemann seine Freunde aus der Partei gebeten, »Bitte macht keinen Wirbel«, und es versammelten sich tatsächlich nur hundert Geburtstagsgäste in der Dortmunder Westfalenhalle, unter ihnen der Ministerpräsident. Heinemann hatte längst vergessen, was er mal über Steinbrück gelästert haben soll. »Hermann«, erinnerte ihn Steinbrück in seiner Laudatio, »du hast mal gesagt, ich hätte noch nie in meinem Leben gearbeitet.« – »Beschwer dich nicht«, unterbrach ihn der lachende Alte, »du arbeitest noch immer nicht. Du regierst nur.«

Am Anfang dachte Heinemann noch, der Junge sei kein richtiger Politiker, nur ein Aktenfresser, inzwischen aber hat der Junge Heinemanns Segen. »Er ist kein Mann der Industrie«, sagt Heinemann, nachdem der Parteitag in Bochum auseinander gegangen ist. Heinemann ist sehr damit zufrieden, wie der Junge sich macht.

Wenige Tage später gibt Steinbrück bekannt, dass er den CDU-Spitzenkandidaten Jürgen Rüttgers zu einem Fernsehduell auffordern wolle. Wieder einer von Steinbrücks Schachzügen. Ein kleiner Bauer rückt auf, plötzlich ruft jemand »Schach!« – bloß eine Drohung, keine ernste Gefahr, aber die Drohung wirkt eine Weile, weil sie aus dem Nichts zu kommen scheint. Ein Amtsinhaber, der seinen Herausforderer provoziert, eigentlich gehört es sich umgekehrt. Rüttgers reagiert so verdattert, wie Steinbrück hoffte. Das heißt, zuerst reagiert Rüttgers gar nicht, dann windet er sich lange, schließlich willigt er halbherzig ein, am Ende lässt er verbreiten, das Fernsehduell sei im Grunde seine eigene Idee gewesen.

An einem strahlend schönen Morgen im Dezember 2004 lässt sich Steinbrück zu einem Dorfmuseum am Rand von Leverkusen fahren. Schafe, Sprossenfenster, Trauerweiden. Ein altes bärtiges Männlein wartet vor der Tür, Herr Räuber vom Förderverein. »Ehrenamtstour« nennen Steinbrücks Leute solch einen Tag, der MP werde zu selten als »Kümmerer« wahrgenommen. Das müsse sich bis zur Wahl ändern. Die »friedfertige Gesellschaft« soll Steinbrücks Logo werden.

»Sie sind für die Finanzen zuständig, ja?«, fragt Peer Steinbrück, das alte Männlein nickt aufgeregt und greift nach der Hand des Ministerpräsidenten. »Das ist ein Scheißjob. Ich hab so was Ähnliches auch schon gemacht«, sagt Steinbrück, der frühere Finanzminister. Bei einem Rundgang lässt sich Steinbrück Sensen zeigen und fragt den Vorsitzenden des Vereins: »In welchem Winkel senst man?« Der Vorsitzende nuschelt herum, »hm«, schweigt dann betreten und wendet sich einem Schaukasten zu. Es ist unglaublich mit diesem Steinbrück. Seine Fragen zur Technik des Sensens können einen glänzend vorbereiteten Sensenhistoriker vollkommen aus der Fassung bringen. Als Steinbrück danach im Museumskeller einen alten Schleifstein betrachtet, erzählt er von seinen ersten Rasierversuchen. Geblutet habe er »wie ein Schwein«.

Vor überschaubarem Publikum streut Steinbrück gerne Sätze ein, in denen das Wort »Scheiße« vorkommt. Schon in dem Café in Münster sagte er halblaut, als Damen an Nebentischen mit gespreizten Fingern Porzellantässchen zum Mund führten: »In den Arsch getreten.« Es macht Spaß, ihn »Arsch« sagen zu hören. Steinbrück setzt dann das Siegergesicht eines Halbstarken auf, der in einer Kellertoilette heimlich Lungenzüge übt. Erst hustet er noch verschämt, später schnippt er frech eine Kippe auf die Straße.

Eigentlich wollen solche Wörter gar nicht passen zu diesem Mann, der stets bemüht ist, Etikette zu wahren, sich niemals heranschmeißt, viel vornehmer auftritt als die alten Sozialdemokraten von der Ruhr, die sich ihre Mandate an Biertresen abholten. Sie gaben sich wie das Volk in den Kneipen, sie sprachen auch so, wenn das Volk zuhörte. Ganz anders der Neue. Als Steinbrück sich in seinem Wahlkreis nahe Unna einem SPD-Bürgermeister vorstellte, dachte jener Bürgermeister: »Oh, ein Technokrat.« Ein Gefühl von Fremdheit stand auf einmal im Raum, und der Bürgermeister glaubte, seine Sätze so drechseln zu müssen, dass er sich am Genossen-Du vorbeimogeln konnte.

Den Wahlkreis Unna II am Ostrand des Ruhrgebietes hatte Steinbrück von dem früheren Umweltminister Matthiesen geerbt, der 1998 aus der Politik ausschied. Matthiesen hatte schon in den Siebzigern Steinbrück vor dem Verfassungsschutz gerettet, später empfahl er ihn Rau als Büroleiter, nun fuhr Matthiesen in Kamen und Bergkamen herum und warb für einen Fremden namens Steinbrück. Die Leute im Wahlkreis konnten einen starken Verbündeten gut gebrauchen, ihre letzte Kohlezeche stand auf der Kippe, sie machten Minister Steinbrück zu ihrem Mann. Ein kalkulierter Pakt, Loyalität gegen Loyalität, diese Gegend hat Steinbrück viel zu bieten. Knapp 60 Prozent SPD-Wähler, Rekord in NRW, eines der letzten roten Paradiese. Eine narrensichere Basis für jemanden, der sich unbedingt eine Basis besorgen musste.

Denn eigentlich ist bei Steinbrück alles verkehrt. Ständig läuft er in Nadelstreifen herum, sein Vorname kostet ihn in Wanne-Eickel mindestens einen Prozentpunkt, und sobald der Hanseat das Wort »Steinkohle« ausspricht, »Sssteinkohle«, verliert er in Wanne-Eickel noch einen Punkt. Deswegen braucht Steinbrück eine Verbindung zum Wahlvolk dringender als andere Sozialdemokraten. Beim Hochfahren des Computerprogramms Peer sucht die Software ganz am Ende nach einer Rückkopplung zur Basis und stößt auf den »Arsch«, vor Professoren wird gerne »Bullshit« daraus.

Körperschaftsteuer, Länderfinanzausgleich, Peer Steinbrück hat darüber nicht nur ein paar Akten gelesen, er war Fachminister, viele Jahre lang, er hat sich fleißig durch Berge von Informationen gefressen und ein Urteil gebildet. Er gehört zu den wenigen Spitzenpolitikern, die ein Ministerium nicht nur gründen, sondern auch aus dem Stegreif leiten könnten, ohne sich dabei fachlich zu blamieren. Das sagen sogar Politiker, die ihn nicht leiden können.

Einmal fragt ihn eine Unternehmerin in einer Gütersloher Brotfabrik, warum auch er an der subventionierten Steinkohle festhalte, obwohl er sich so modern gebe. »Wollen Sie die Kurzfassung oder die Langfassung?«, fragt Steinbrück zurück. Er wählt selbst die Kurzfassung und nennt zehn Gründe, von denen nicht jeder sticht, aber jeder ist einen Gedanken wert, zum Beispiel: Was kostet den Staat ein sozialer Kahlschlag? Später, beim Besuch eines Öko-Mitmachmuseums, erzählt er vor einer Traube Zuhörern von seinen verzweifelten Versuchen, zu Hause einen Marder zu vertreiben. Mit allen Mitteln habe er es probiert, am Ende sogar, ja, jetzt muss es raus, sogar mit »Wolfspisse«.

Als der Ministerpräsident Steinbrück zu regieren begann, trat er im Landtag noch auf wie jemand, der sich in der Tür vertan hatte. »Er hatte etwas total Unverdorbenes«, sagt eine junge Abgeordnete. Mit gebeugten Schultern hing er über dem Rednerpult, mit den weit aufgerissenen Augen eines großen Kindes tapste er im November 2002 durch die Gänge. Dann aber wurde alles anders.

Steinbrück war gerade mit Clement und Schröder von einem Besuch in Shanghai zurückgekehrt, wo sie bei 431 Stundenkilometern die Jungfernfahrt der Magnetschwebebahn Transrapid mitgemacht hatten. Ein deutsches Schwestermodell dieses Schnellzuges mit dem Namen Metrorapid wollte schon Clement zwischen Düsseldorf und Dortmund fahren lassen, es wurde aber nichts daraus, und nun schlug sich sein Nachfolger Steinbrück mit dem Metrorapid und den Bedenken des grünen Koalitionspartners herum. Plötzlich musste alles hoppla-hopp gehen, die grüne Umweltministerin Bärbel Höhn ärgerte sich sehr. Inzwischen, in der rot-grünen Wahlkampfharmonie des Mai 2005, will sich die Ministerin nur noch mit der versöhnlichen Erinnerung zitieren lassen: »Die Eindrücke, die Ministerpräsident Steinbrück aus China mitbrachte, erschwerten die rot-grüne Zusammenarbeit.«

»Jedes Kräftemessen gibt ihm einen Kick«, sagt seine Frau

Wer am Jangtse-Fluss in ein Flugzeug steigt und zehn Stunden später am Rhein landet, muss schockiert sein. Das Reich, aus dem Steinbrück heimkehrte, wächst unaufhörlich, es platzt beinahe vor Erneuerungswut. Nordrhein-Westfalen dagegen ist daran gewöhnt, einen Schritt zurückzuweichen, sobald man zwei Schritte nach vorn gegangen ist. Erneuerung kann man nur kriegen, wenn man dafür hohe Abfindungen zahlt. Jede Veränderung muss mühsam ausgehandelt werden, mit Sekretären der IG Metall, den Vorständen von Kohle, Strom und Stahl, den Landschafts- und Kommunalverbänden, den Bezirksregierungen, den Grünen. Sicherheit. Überschaubarkeit. Harmonie. Ruhe. Sobald die SPD diese Gebote verletzt, wie im vergangenen Sommer in der aufgewühlten Debatte um eine herzlose Hartz-IV-Republik, verschlechtern sich Steinbrücks Umfragewerte drastisch.

Strukturwandel, dieses nordrhein-westfälische Unwort, bedeutet: alte Industrien so langsam zu verkleinern, dass die Menschen, die davon abhängig sind, keinen nennenswerten Schaden erleiden. Entsprechend langsam gedeiht aber auch das Neue, die Kosten für die Langsamkeit hat der Staat zu übernehmen. Man kann Nordrhein-Westfalen lieben für seinen behutsamen Umgang mit verblühenden Landschaften. Man kann auch das Schneckentempo verachten. Nach der Fahrt in Shanghai war es Steinbrück leid.

Bald spitzte sich sein Streit mit den Grünen zu, die ganze rot-grüne Koalition stand auf der Kippe, die FDP bandelte schon mit Steinbrück an, und die führenden Genossen in Berlin wunderten sich, was wohl in diesen Steinbrück gefahren sei. Er schien wie von Sinnen, als wolle er das Projekt Rot-Grün blindwütig in den Dreck stoßen. Am Ende sprang für ihn eine Abmachung mit den Grünen heraus, das »Düsseldorfer Signal«. Die Regierung sollte nun schneller Beschlüsse umsetzen. So wenig das Papier politisch bewirkte und so rasch Steinbrück die Metrorapid-Bahn beerdigte, so sehr brauchte der neue Regierungschef eine Bestätigung. Man sah ihn nun in veränderten, staatsmännisch anmutenden Posen. »Sein ganzer Körper schien sich gestrafft zu haben«, erinnert sich ein Landtagsabgeordneter. »Jedes Kräftemessen gibt ihm einen Kick«, sagt seine Frau, »dadurch gewinnt er Energie.«

Einmal, zu Beginn der siebziger Jahre, bekam Peer Steinbrück einen Nymphensittich geschenkt. Für ihn war es weniger ein Geschenk als eine Belästigung. Oft schimpfte er, wenn er den Käfig sauber machte. Seine Freunde in der Wohngemeinschaft wollten ihn mit diesem Vogel ein bisschen ärgern, sie wussten, dass Steinbrück mit Tieren nichts anfangen konnte. Peer Steinbrück pflegte lieber seinen Zettelkasten, in dem er Erläuterungen zu politischen Begriffen einsortierte, und wenn es abends am Küchentisch zum Beispiel um die Nato und Portugal ging, hatten die anderen keine Ahnung, Peer dagegen hatte seinen Kasten. Er konnte sie alle in Grund und Boden argumentieren, er genoss den politischen Vortrag. Er konnte sich schon damals in die Augenblicke verlieben, in denen er Recht behielt. Es wurde ihm zum Prinzip, sich Selbstgewissheit und Erfolg allein über Argumente zu beschaffen.

Eines Tages aber verblüfften die Mitbewohner den schlagfertigen Peer Steinbrück. Sie legten ihm ein rohes Hühnerei ins Zimmer und machten ihm weis, dass bald ein Küken schlüpfen werde. Vorsichtig müsse er sich nun bewegen, kein Lärm, keine Erschütterungen, keine frische Luft. Peer Steinbrück gehorchte, nach ein paar Tagen stank es in seinem Zimmer wie in einer Umkleidekabine. Er blieb ganz arglos, und die anderen mussten ihn darüber aufklären, dass er auf einen dummen Streich hereingefallen sei. Endlich einmalhatten die anderen gewonnen, indem sie seine wunde Stelle getroffen hatten. Ein Hühnerei, das war ein Sieg über Steinbrücks Sachverstand. Tiere, Pflanzen, Natur – auch im politischen Leben bildete sich dort eine Front. 1990 holten Genossen Peer Steinbrück nach Kiel, weil sie ihn als Bollwerk gegen grüne Fantasien brauchten. Wer sonst konnte damals den SPD-Umweltminister Berndt Heydemann mit seinen tausend versponnenen Ideen bremsen? Steinbrück wurde Heydemanns Staatssekretär und verschliss sich beim Bremsen.

Will man erfahren, was Steinbrück mit den Grünen verbindet, muss man einen seiner Freunde besuchen, die ihn seit Jahrzehnten kennen. »Wir verstehen uns da blind«, sagt jener Freund, der seit je politisch denkt und seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Man kann ihn nach Joschka Fischer fragen, der Visa-Affäre, immer zischt jener Freund: »Beschissen.« Das kommt auch daher, dass er schon die Existenz der Grünen »beschissen« findet. Was sich die Grünen genommen hätten, habe mal zur SPD gehört. Um einen Diebstahl von politischer Masse geht es, auch von Wählermasse.

Haben Sie damals die Schlacht mit den Grünen verloren, Herr Steinbrück?

»Nein, wir haben ein neues, tragfähiges Fundament gelegt.«

Wollen Sie beweisen, dass Sie mehr sind als Clement II.? Haben Sie die Schlacht mit dem Koalitionspartner angefangen, weil Sie sich von Ihrem Vorgänger Clement emanzipieren wollten?

»Emanzipieren? Überhaupt nicht.«

Wollten Sie eine Lex Steinbrück erzwingen, eine eigene Vereinbarung mit den Grünen zu Ihren Bedingungen?

»Nein, es ging mir nur um die Sache.«

Es ist April 2005, und Peer Steinbrück will von verlorenen Schlachten nichts wissen. Er sitzt in seinem Eckbüro in der zehnten Etage eines futuristischen Glaskastens, der an einen Triumphbogen erinnert, wenn man ihn von Jürgen Rüttgers’ Landtagsterrasse aus betrachtet. Von dort aus wird Steinbrück den Triumphbogen nie betrachten, weil er nach einer Wahlniederlage nicht Oppositionspolitiker werden wird. Rüttgers jedoch hat schon einmal verloren, im Jahr 2000, seither geht es ihm nur noch um eines. An einer Wand vor seinem Büro hängen schwarze Bilder, eines heißt Die Sehnsucht, ein anderes Gesponnen.

Rüttgers, Jürgen, 53 Jahre, Motto: »Neue Kraft«. Mal ist er für die Steinkohle, mal dagegen, im Moment ist er voll für die vorläufige Kohle, alles m��������������andert unschlüssig hin und her. Ratlos verlässt man sein Zimmer, gelangweilt legt man später seine Verlautbarungen weg und hat danach sofort vergessen, ob er sich mit einem oder zwei t schreibt. Fast vier Jahrzehnte SPD-Herrschaft haben die Opposition verkümmern lassen zu einem Häufchen Übriggebliebener. Wer als Christdemokrat hoch hinaus wollte, musste aus Nordrhein-Westfalen wegziehen. Bald könnte es umgekehrt laufen.

In Wahlumfragen liegt die CDU weit vorn. Die SPD muss sehr viel falsch gemacht haben an Rhein und Ruhr, wenn die Menschen plötzlich auf Rüttgers setzen. Erklärungen gibt es viele, die kürzeste lautet: eine Million. Im Land der Arbeit leben inzwischen mehr als eine Million Arbeitslose. Ein Gefühl wachsender Bedrohung. Mit dieser Zahl zieht Rüttgers los, diese Zahl kann vernichtend wirken. Sollte er die Chance zur Wende vermasseln, ist er politisch tot.

»Schauen Sie, was für ein herrlicher Blick«, sagt Steinbrück und stellt sich vor die Fensterfront in seinem Büro, von hier oben erkennt man Rüttgers’ Terrasse nur mit Mühe. Der Landtag da unten sieht aus wie ein unförmiger, schmutzbrauner Klotz, daneben sieht Steinbrück Containerschiffe über den Rhein schaukeln. Die aktuellen Wahlprognosen schaut sich Steinbrück nicht an.

Man hat ihm oft vorgehalten, er habe keine tragende Idee, keine Agenda, nichts dergleichen. »Die großen Missionare der Geschichte«, antwortet er, »führten die Menschen in Tragödien. Das eigentliche politische Geschäft erledigen Pragmatiker.« Dass man das Land da unten jenseits der Rheinauen so schnell verändern könne, wie es notwendig sei, daran zweifelt Steinbrück inzwischen sehr. »Alle scheuen das Risiko, sogar jene, die das Risiko immer einfordern. Auch die Industrie verlangt ständig staatliche Hilfen. Der Korporatismus sitzt überall in den Köpfen.«

Als der Spiegel einmal schrieb, Steinbrück sei unfähig, sich politisch zu verhalten, hat der Ministerpräsident sich maßlos darüber geärgert. Er sah gleich den Vorwurf des »Unprofessionellen«, und daraus entwickelte sich in Steinbrücks Kopf sofort »dämlich«. Dabei ist er klüger, als die Partei erlaubt. Auch das ändert nichts daran, dass er Politik ausschließlich »machen« will, sie am liebsten herunterkopiert auf ein praktisches Format, als sei Politik bloß eine Sammlung von Ausführungsbestimmungen. Die symbolische Seite von Politik unterschätzt er, die menschliche Geste, weil er alles unterschätzt, was seinen Geist nicht fordert.

»Wie ein Legokasten« funktioniere er, sagt Steinbrücks Frau, jede neue Lebenserfahrung ordne er ein. Einmal sei er nach einem Tag voller Pflichttermine auffallend fröhlich zur Tür hereingekommen, weil ihn in einem Seniorenheim eine alte Dame zu einem Tanz genötigt hatte. Peer Steinbrück tanzt ausgesprochen ungern, dachte bis dahin seine Frau. Doch diese alte Dame habe ihn für den restlichen Tag verzaubert durch ihre zupackende, herzliche Art. Von einem fremden Menschen hatte sich Steinbrück überrumpeln lassen und eine wohltuende Wärme in sich gespürt – wieder ein Erweiterungssatz für den Legokasten. »Seine Achtung vor Menschen ist sehr gestiegen«, sagt seine Frau, früher hatte er für Ehrenamtliche nichts übrig. »Du musst dich auch mal auf Menschen einlassen, die mit ihrer Arbeit kein Geld verdienen«, meckerte Steinbrücks Schwiegermutter.

Als Fachminister konnte er sich noch drücken vor all den herzensschweren Taubenzüchtern und Karnevalsprinzen, als Regierungschef aber musste er auf fremde Menschen zugehen. Er konnte sich nicht länger hinter Büchern über die Menschheitsgeschichte vor den richtigen Menschen verstecken. Mit Mitte 50 musste er sich beibringen, wie man Bedürfnisse von Menschen erspürt. Peer Steinbrück musste das lernen, wie Kinder radfahren lernen.

Der MP kann die Fassung verlieren, wenn er glaubt, etwas läuft falsch

Man kann sich nie ganz sicher sein, was noch alles in Steinbrücks Legokasten liegt. Eigentlich sah alles nach einem harmonischen Urlaub aus, damals, vor acht Jahren am Lough Corrib in Irland. Mit zwei Freunden landete er auf dem Flughafen Shannon. Noch nie hatte Steinbrück vorher geangelt, vergnügt saß er im Boot auf dem See und zog als Erster einen Hecht heraus. Die beiden anderen verstanden etwas vom Fischen und lächelten zunächst ungläubig, als Steinbrück schon nach einer Viertelstunde rief: »Ich hab einen!«

An anderen Abenden tranken die Freunde Whisky, steckten sich Zigarren an und spielten Skat. Einmal drohte Steinbrück haushoch zu verlieren. Er verlor nicht, weil er sich in der letzten Runde zu einem äußerst waghalsigen Karo Hand entschloss und sich durch diesen Coup rettete. Es ist die irische Variante einer Parabel, die Steinbrücks Freunde gerne über ihn erzählen.

Jörg Rüdel, Hafendirektor in Kiel, erinnert sich auch an andere Episoden. Ihm gehört das Ferienhaus am Seeufer, er lieh Steinbrück die Angelrute und fuhr den Mietwagen. Nach dem letzten Urlaubsabend stiegen die Freunde früh am Morgen verkatert ins Auto, Steinbrück schwieg mürrisch. Wie immer fuhr Rüdel schnell, daran waren die anderen gewöhnt, plötzlich brüllte Steinbrück los: »Warum fährst du so schnell? Bist du verrückt geworden?« Rüdel bremste, stieg aus und schrie: »Mach doch deinen Scheiß alleine!« Steinbrück und Rüdel sprachen bis zur Landung in Deutschland kein Wort mehr miteinander. »Die ganze Zeit hatte er sich verhalten wie wir anderen, hatte sogar Geschirr abgewaschen«, sagt Rüdel, »und dann das. Plötzlich dachte ich: Jetzt hält er mich für eine Hilfskraft aus seinem Ministerium. Dabei war ich der Gastgeber.« Wenn Steinbrück glaubt, etwas läuft falsch, während er machtlos danebensitzt, kann er völlig die Fassung verlieren. Ähnlich muss es gelaufen sein, als er sich mit den Grünen anlegte.

»Im Grunde ist Peer ein Sozialliberaler«, die Kindheit habe ihn geprägt, vor allem die Mutter, denn der beflissene Vater war ja meist unterwegs. Adenauer-Zeit. Bei Abendgesellschaften zu Hause im Wohnzimmer der Eltern hätten die Gäste gern über neue Mercedes-Modelle gesprochen, allein Steinbrücks Mutter Ilse habe sich darüber aufgeregt, dass die Deutschen ihre Nazivergangenheit verdrängten. Sie habe gegen ein selbstgerechtes Bürgertum opponiert, in dem sie selbst heimisch war.

Der Mann, der davon erzählt, ist Anwalt und Unternehmensberater in Köln, trat dreimal in die FDP ein, dreimal aus, mit dem Ministerpräsidenten verbindet ihn ungeheuer viel, er mag ihn, er schätzt ihn, er ist sein jüngerer Bruder.

»Viereinhalb Jahre jünger«, sagt Birger Steinbrück, das sei ein gewaltiger Unterschied gewesen, damals am Schrötteringksweg in Hamburg-Uhlenhorst, wo die Jungs neben Kriegstrümmern ihr Gelände abliefen und es mit Freunden gegen andere Kinderbanden verteidigten. »Peer wollte immer unbedingt gewinnen«, sagt der kleine Bruder. Die Anführer der Bande seien andere gewesen, Peer habe in der zweiten Reihe gestanden.

Das Geld, das der pubertierende Peer Steinbrück mit Mädchen in teuren Discos an der Alster durchbrachte, hatte er sich als Parkwächter verdient. »Er konnte die Leute gut einweisen.« Eine Anspielung?

Gewachsen sei er in den Augen seines großen Bruders, als Birger Steinbrück in Segelregatten Pokale holte und Peer von all den interessanten Leuten mit den großen Booten erzählte. Merkt der kleine Bruder die metaphorischen Botschaften nicht? Will er darauf hinaus?

Birger Steinbrück sieht nicht so aus, als entginge ihm die Wirkung seiner Worte. Mit Menschen hat er oft zu tun, »ich brauchte immer viele Menschen um mich herum. Er nicht. Wenn ich das Wort Landesvater höre und an meinen Bruder denke, muss ich lachen.« Es ist ein Dienstagabend Ende April, in einem Kölner Bistro bestellt Birger Steinbrück Grauburgunder, die Staatskanzlei seines Bruders hat endlich die Termine für die Fernsehduelle zusammen; das erste wird der Bruder erwartungsgemäß gewinnen.

»Warum soll ich meinen Bruder wählen? Sagen Sie es mir.«

Ein paar mögliche Gründe später fragt Birger Steinbrück: »Nur weil er besser ist als Rüttgers? Kann mir das reichen?«

Das Zeug zum Drama habe diese ganze Geschichte, sagt er, die Geschichte der Unzertrennlichen, Peer Steinbrück und Wolfgang Clement. Erst habe Clement ihn in die Regierung geholt, jetzt drohe ihn derselbe Mann unter fünf Millionen Arbeitslosen zu begraben.

»Ich werde ihn wählen, natürlich, er ist doch mein Bruder.«

Am Abend des nächsten Tages lässt sich der Wahlkämpfer Peer Steinbrück in einer Duisburger Halle vor Tausenden Zuschauern vom Kanzler umarmen. »Der Peer sacht imma…«, ruft Schröder, »Der Kanzler hat erklärt…«, ruft Steinbrück. Das Verhältnis zwischen beiden wird nie wieder so unbelastet sein wie vor Steinbrücks Koalitionskrach mit den Grünen, aber davon darf nun nichts mehr zu spüren sein.

Als Steinbrück spricht, lehnt Schröder lässig an einem Stehtisch und knipst sein Dauerlächeln an. Er steht da wie der liebe Onkel, der sich auf seinem Geburtstagsfest von seinem Patenkind ein Gedicht vortragen lässt. Als Schröder an der Reihe ist, klammert sich Steinbrück an die Kante des Stehtisches und nickt mit ernster Miene. Er steht da wie ein Parteienforscher.

Wenige Tage zuvor saß Steinbrück wieder bei Christiansen. Diesmal sah er übermüdet aus und wirkte nicht so konzentriert wie gewöhnlich. Versehentlich ging es gleich zu Beginn der Sendung um Helmut Kohl. Das war jener Mann, der erst loslassen konnte, als er schließlich unterging. Noch im Fallen riss er politisch Getreue mit. »Kanzler Kohl«, sagte Steinbrück, als er »Kanzler Schröder« sagen wollte. Peer Steinbrück hat seinen Versprecher gar nicht bemerkt.